Während ich so auf dem Sofa sitze, den letzten Schokoladenweihnachtsmann aufesse, den beleuchteten Weihnachtsbaum betrachte und nicht weiß, was ich überhaupt schreiben soll, entspinnt sich ein Gedanke in meinem Kopf...
Das Mädchen von Spitzbergen
Ich stamme von den Wikingern ab,
zumindest behauptete mein Vater das immer. Ich bin ein Mädchen mit
roten Haaren, Sommersprossen, roten Wangen und rauen Händen. Ich
lebe auf Spitzbergen in einer kleinen grünen Holzhütte,
kilometerweit entfernt von anderen Menschen. Aber das macht mir
nichts aus. Ganz im Gegenteil. Ich liebe die raue, karge Gegend. Ich
bin ein Kind des Nordens, liebe die Kälte und die Abgeschiedenheit;
bin meist eins mit der Natur. Möchte ich Gesellschaft, gehe ich in den
Bergen oder am Fijord spazieren. Die Rentiere sind meine liebsten
Freunde, sie folgen mir auf Schritt und Tritt. Wenn die tiefen und
harten Winter kommen, und mit ihnen die Schneestürme, kann ich mich
auf sie verlassen. Sie geleiten mich immer wieder nach Hause, wenn
ich mich mal verirre, was selten vorkommt.
Es war im letzten Jahr um die
Weihnachtszeit, als ich warm eingepackt in Felle und Wollbekleidung,
mit meinem Schlitten, das Häuschen verließ, um auf die Suche nach
einem Weihnachtsbaum zu gehen. Bald schon hatte ich ein kleines
Bäumchen gefunden, fällte es mit zwei Hieben und legte es auf den
Schlitten.
Da hörte ich ein leises Knirschen, ein Knarzen und ein
Schnauben hinter mir. Als ich mich umdrehte standen da ein
Rentiermännchen mit seinem imposanten Geweih und ein Junges. Da ich
alle Rentiere dieser Gegend gut kannte, war ich mir sicher diese
beiden noch nie zuvor gesehen zu haben. Auch konnte ich mich nicht
entsinnen, dass ein Weibchen vor kurzem ein Junges bekommen hätte.
Kommen die Kleinen doch immer im späten Frühjahr zur Welt. Dies
mußte eine sehr besondere Familie sein. Ich schaute die beiden an, ging
langsam auf das Männchen zu. Ich merkte die Unruhe, die von dem Tier
ausging. Zwar bewegte es sich kein Stückchen, aber irgendetwas
stimmt nicht mit ihm. Vorsichtig wollte ich es an den Ohren kraulen,
aber es zuckte zurück und mit einem Satz stoben beide auseinander
und rannten davon.
In Gedanken versunken über diese Begegnung, zog ich
meinen Schlitten nach Hause, schüttelte den Schnee von dem Bäumchen,
denn es hatte die letzten Meter wieder angefangen heftig zu schneien.
Ich machte mir zuerst eine Kanne heißen Schwarztee, stellte das
Bäumchen auf und hängte ein wenig Papierschmuck daran, den ich noch
von meinen Eltern hatte. In der Schachtel waren nach ein paar
Strohsterne und Wachskerzen. Ich schaute aus dem Fenster. Es war
stockdunkel. In der Ferne sah ich ein paar Lichter meiner Nachbarn.
An den Fenstern hatten sich Eiskristalle in den wunderschönsten
Mustern gebildet. Morgen war Heiligabend, den ich wie immer alleine
verbrachte. Ich ging früh schlafen, konnte aber nicht wirklich Ruhe
finden. Irgendetwas trieb mich um.
Als ich völlig gerädert am
nächsten Morgen in aller Frühe erwachte, war mir als hätte ich
etwas an der Tür gehört. Ich zog schnell meinen Mantel über und
öffnete die Tür. Ein eisiger Wind trieb mir die Tränen in die
verschlafenen Augen. Es hatte zwar zu schneien aufgehört, dafür hatte es in der
Nacht reichlich Neuschnee gegeben. Da ich niemanden sehen konnte,
schloß ich schnell wieder die Türe. Als ich meinen Haferbrei
zum Frühstück bei Kerzenschein gegessen hatte, zog es mich nach draußen. Es war dunkel, aber über mir am Himmel breitete sich ein Sternenmeer aus. Kurz hielt ich inne, dann stapfte ich mit einer Laterne in den
tiefen Schnee, in den ich halb versank. Weit würde ich nicht kommen.
Aber das mußte ich auch nicht.
Ich war nur einige hundert Meter von
meinem Häuschen entfernt, als ich vor mir das kleine Rentierjunge
sah. Ich erkannte es sofort. Das rechte Ohr stand nämlich ab, das andere hing nach unten. Aber nirgendwo war der Vater oder das Muttertier. Da sah ich
plötzlich zu meinem großen Schrecken ein Rentier auf dem Boden
liegen. Ich lief hin so schnell es mir die Schneemassen erlaubten und
hockte mich zu dem armen Tier, welches recht zugeschneit war.
Es war schon steif und kalt. Ich spürte wie mir die Tränen
aufstiegen. Da stupste mich eine kleine feuchte Nase von der Seite
an. Das Kleine mußte hier schon die halbe Nacht zugebracht haben. Es
machte auch einen recht erschöpften Eindruck. Ich stand auf, schaute
in alle Richtungen, hielt Ausschau nach anderen Rentieren, aber es war wie verhext.
Kein einziges Tier war zu sehen. Wo waren sie nur alle? Jeden Schritt
den ich tat, folgte mir das Junge. Ich hatte schnell eine
Entscheidung getroffen. Ich würde es mitnehmen, folgen würde es mir
vermutlich. Die nächsten Tage konnte ich ja weitersehen.
Nun stapften
wir beide durch den Schnee, bis wir an meinem Häuschen angelangt
waren. Immer noch wunderte ich mich über das Jungtier im tiefen
Winter. Mit meinen Handschuhen befreite ich das Kleine vom Schnee und
schob es sanft in die warme Stube. Es war wohl vor Erschöpfung ein wenig wackelig auf den Beinen. Es drehte sich um, um sich zu
versichern, dass wohl alles seine Richtigkeit hatte. Ich nickte ihm
zu und gab ihm einen leichten Klaps auf den weichen, nassen Rücken. Ich
breitete eine dicke Schlittendecke aus, worauf es sich sofort
niederlegte und rubbelte es ein bißchen trocken.
Ungläubig betrachte ich meinen kleinen Besucher. Es war
Abend geworden. Mein Rentier-Baby schlief ganz friedlich. Ich hatte für mich einen Fischeintopf gekocht. Dazu machte ich mir zur Feier
des Tages eine Flasche Rotwein auf. Für das Tierchen hatte ich eine
Schale Milch hingestellt. Während ich die Kerzen am Baum
entzündete, bemerkte ich ein vorsichtiges Geschnupper an meinen
Füßen. Das kleine Rentier kam näher, lehnte sich an mich und machte Geräusche der
Zufriedenheit. Ich war jetzt wohl seine Ersatzmama. Ich mußte
lächeln und streichelte ihm über den Kopf und kraulte ihm die
Ohren. Ich sang ein paar norwegische Weihnachtslieder, während mein
neuer kleiner Freund aufmerksam zuhörte. So einträchtig verbrachten
wir diesen Heiligen Abend, den ich nie vergessen werde und der mein
schönstes Weihnachten war.
Peer ist übrigens immer noch bei mir. So
habe ich ihn genannt, meinen Freund. Er ist zwar ein bißchen größer
geworden, ich hatte ihm im Sommer eine eigene Hütte an meine angebaut. Ohne
ihn wäre ich nur halb. Er ist mein größtes Geschenk, dass ich je
bekommen habe.
W Habt wunderschöne, märchenhafte Weihnachten!
W